nibr Segler-Meßner S1 2020-07-31

Universität Hamburg

Fakultät für Geisteswissenschaften

Fachbereich Sprache, Literatur, Medien II

Prof. Dr. Silke Segler-Meßner

53- 703: Feminismen in Italien und Frankreich

SoSe 20

Nina Brinkmann (Matrikelnr.: 7052786)

Abgabe: 13. August 2020

 

Close-Reading:

Claudine Galéa, Au bord

 

Einleitung

Im Jahr 2020 sind in Deutschland ca.12% der Soldaten Frauen, erst seit 2001 stehen ihnen alle Laufbahnen in der Bundeswehr offen. [1] In den USA sieht das ähnlich aus. 2014 waren ca.15 % der Armeeangehörigen weiblich. [2] Frauen wird auch heute häufig noch die Rolle der fürsorglichen Mutter, der unterstützenden Angehörigen oder der verständnisvollen und empathievollen Freundin zugeschrieben. Dass Frauen in die Armee eintreten, und aktiv an Kriegshandlungen beteiligt sind passt für viele nicht zusammen. Nur wenige können sich Frauen als Täterin vorstellen, und wenn dann nur bei „leichteren Vergehen“, aber nicht bei Kriegsverbrechen.

Aus diesem Grund sind die Taten der 22- jährigen US-amerikanischen Soldatin Lynndie Rana England im irakischen Gefängnis Abu Ghraib für viele umso schockierender, welche auf Fotos zu sehen sind, auf denen sie einen nackten irakischen Gefangenen an einer Leine hält.

Claudine Galéa griff für ihr Werk Au bord eines dieser Folterfotos auf. Im Folgenden wird ein Ausschnitt aus Au bord anhand eines Close-Readings analysiert, und aus genderspezifischer Sicht untersucht und kritisiert.

 

Peritextueller Rahmen

Der peritextuelle Rahmen bezieht sich auf den Titel Au bord, das Cover des zunächst als Theaterstück veröffentlichten Romans, und das vorangestellte Zitat „Je suis cette laisse en vérité“ nach Dominique Fourcade.

Das Cover ist in einem dunklen blau gehalten mit großer, weißer Schrift des Titels und etwas kleiner darunter des Namens der Autorin. Im unteren Bereich befindet sich ein schwarz-weißes Streifenmuster, welches von einem Rahmen begrenzt wird. Das Cover lässt keine inhaltlichen Assoziationen zu, allerdings passen die Streifen zum Titel Au bord, weil sie nebeneinander fortlaufen, sich aber nicht berühren.

Au bord bedeutet übersetzt am Rande von etwas, ein Umriss oder eine Kontur, eine Begrenzung, das Ende einer Oberflächlichkeit. Es werden zwei Seiten gegeneinander gestellt, vermischen sich aber nicht, und existieren parallel weiter. Der Titel lässt darauf schließen, dass etwas nur schemenhaft dargestellt wird, im Verborgenen bleibt oder daraus hervorgenommen wird, obwohl es besser unter der Oberfläche geblieben wäre.

„Je suis cette laisse en vérité“ ist ein Zitat von Dominique Fourcade, welches vorangestellt wird, und immer wieder in Au bord in dieser oder ähnlicher Form aufgegriffen wird. La laisse, die Leine, bedeutet einerseits ein Tier zu führen, aber auch jemanden in seiner Freiheit einzuschränken. Dieses Bild passt zu der Fotografie, auf die sich die Autorin bezieht, und die eine Soldatin zeigt, wie sie einen Mann an der Leine hält, ihm seine Freiheit nimmt, und der sich wie ein Tier am Boden befindet.

 

Erzählsituation und Beziehung zur Form des Textes

Es handelt sich um einen autobiografischen Theatermonolog mit autodiegetischer Erzählerin und interner Fokalisierung. Au bord lässt sich in drei Abschnitte aufteilen. Die ersten zehn Seiten erinnern an ein Gedicht, dann folgt ein Stream of consciousness und auf der vorletzten Seite findet ein Wechsel hin zum Epilog statt.

Die Autorin thematisiert ihre Assoziationen zu der Fotografie, verknüpft diese mit Erinnerungen an ihre Kindheit, und mit Erinnerungen an ihre Ex-Geliebte, die sie auch mit sexuellen Andeutungen beschreibt. Dazu nutzt sie viele Wiederholungen und unterteilt den Gedichtsteil in viele einzelne Abschnitte, die sich teilweise überlappen, und die Lesenden nicht unmittelbar wissen, ob sie von der Soldatin auf dem Foto oder ihrer Ex-Geliebten spricht. Sie nutzt einfache und kurze Sätze, die dem inhaltlichen Nachdruck verleihen. In dem Stream of consciousness bekommt der Lesende durch die wenige Punktuation den Eindruck an ihren Gedanken zu der Soldatin, zu ihrer Ex-Geliebten und zu ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter, teilhaben zu können. Im Epilog berichtet sie wie ihr der Schreibprozess geholfen hat, mit ihren Erinnerungen abschließen zu können. Sie nutzt vulgäre und doppeldeutige Sprache, was die Überlappung der Assoziationen zu den verschiedenen Frauen unterstreicht.

Es ist auffällig, dass kaum Namen genannt werden, weder die Mutter wird mit Vornamen vorgestellt noch die Geliebte. Eine Nebenfigur, wie die Lehrerin Françoise, die nur einmal erwähnt wird, wird aber namentlich genannt. Das gibt den Hauptfiguren eine unnahbare Seite, kann aber auch für eine Allgemeingültigkeit stehen.

 

Close-Reading

Das Close- Reading bezieht sich auf die erste Seite von Au bord.

Dem Textabschnitt ist das Zitat „Je suis cette laisse en vérité“ (S.1) von Dominique Fourcade vorangestellt, was zugleich der erste Satz ist. Die Worte laisse und je werden häufig wiederholt. Zunächst berichtet die Autorin wie schwer es ihr gefallen ist, Au bord zu schreiben, und dass dies ihr 39. Versuch ist. Sie identifiziert sich sehr stark mit der Leine: „Je suis au bout de cette laisse. Je suis celle qui tient la laisse. Je suis celle qui se tait et qui tient la laisse.” (S.1) Zunächst fragt sich der Lesende, an welchem Ende der Leine sie sich befindet. Im folgenden Satz löst sie auf, dass sie diejenige ist, die die Leine hält und Macht ausübt; fügt aber noch hinzu, dass sie schweigt und die Leine hält. Dies wirft die Frage auf, warum sie schweigt, ob sie sich nicht traut etwas zu sagen oder ob sie nichts zu sagen hat. Hierbei ist der Hintergrund zur Entstehung des Fotos zu berücksichtigen. Die Soldatin gab später an, dass ihr von einem männlichen Vorgesetzten befohlen wurde, in dieser Position für das Foto zu posieren. Sie ist also Opfer und Täterin zugleich. „Celle qui tient la laisse m’appelle“ (S.1) beschreibt die Faszination der Soldatin auf die Autorin, durch sie werden Erinnerungen wachgerufen, dieses Foto ist der Grund für das Schreiben von Au bord. Das Wort appelle ist dabei wie eine persönliche Ansprache oder ein Weckruf für sie. Sie beschreibt indirekt das Foto und die Anziehung, die die Frau auf sie auslöst: „sans me regarder elle me tient captive. Regarde-moi.“ (S.1). Captive bedeutet gefangen und ist ein gutes Beispiel für die Doppeldeutigkeit der Wortwahl, auch wenn das in diesem Beispiel nicht durch eine sexuelle Anspielung geschieht. Zum einen hält das Foto den Betrachtenden gefangen, zum anderen zeigt es den Mann im Gefängnis, der wirklich gefangen ist. Den Abschnitt beendet sie mit den Worten „Regarde-moi.“ (S.1), was die Perversion der Fotografie deutlich macht, da sie dazu aufruft hinzuschauen, und sich die Folterszene anzuschauen. Das „moi“ bezieht die Autorin auf die Soldatin, die Täterin ist, und nicht auf das offensichtliche Opfer, den Mann welcher angeleint am Boden liegt. Man soll die Frau ansehen, und nicht den Mann. Dieses „Gefangenhalten“ funktioniert vor allem aufgrund der Geschlechterkonstellation. Bei einem Soldaten wäre das Foto nicht so aufsehenerregend, das Faszinierende ist, dass eine Frau diese Gewalt ausübt.

Der Abschnitt wirkt wie ein Vorspann, da erst am Ende der zweiten Seite aufgelöst wird, um welches Foto es sich handelt.

 

Genderspezifische Lektüre 

Claudine Galéa unterscheidet in ihrem Theatermonolog stark zwischen den Geschlechtern Mann-Frau und hebt diese immer wieder hervor, weswegen man Au bord genderspezifisch deuten kann.

Sie greift die Faszination auf, die Frauen auf die Gesellschaft ausüben, wenn sie Gewalt ausüben. Das Foto wurde deswegen von vielen Journalist*innen aufgegriffen, und auch Dominique Fourcade hat es als Aufhänger für sein Werk En laisse genommen. Die Fotografie hätte weniger Reaktionen ausgelöst, wenn ein Mann Täter gewesen wäre.

Dadurch, dass eine Frau im Fokus der Tat steht, werden bei Claudine Galéa Erinnerungen an weibliche Personen ausgelöst. Sie verknüpft die sexuelle Faszination und teilweise auch Gewaltfantasien, die sie für die Soldatin empfindet mit ihrer Ex-Geliebten. Die durch Frauen ausgeübte Gewalt ruft auch Erinnerungen an ihre Mutter hervor, von der sie körperlich geschlagen und emotional missbraucht wurde. Ihre Mutter handelte dabei aus der ihr zugeschriebenen Rolle, und war ebenfalls Täterin und Opfer zur gleichen Zeit, da sie bei Widersetzung Schläge von ihrem Mann fürchten musste. Die Autorin beschreibt, wie Frauen so zur Spielfigur werden und sich im Kreislauf der Gewalt befinden.

 

kritische Stellungnahme

Au bord stellt die Abstrusität dar, wie unterschiedlich die Gesellschaft auf Gewalt reagiert, und wie stark die Geschlechterzuschreibungen sind. Das Foto hätte nicht für so viel Aufsehen gesorgt, wenn ein Mann im Mittelpunkt der Gewalttat gestanden hätte. Für viele ist es schockierend und außergewöhnlich, dass eine Frau zu so einer Tat fähig ist. Die Autorin zeigt, wie wichtig es ist, zu verdeutlichen, dass auch Frauen Täterinnen sein können, und welche Erinnerungen das bei ihr hervorruft, die sonst im Verborgenen geblieben wären.

Aus feministischer Sicht ist es positiv zu bewerten, dass Frauen nicht mehr „nur“ als das schwache, ‚gewaltfreie‘ Geschlecht gesehen werden. Allerdings muss man in diesem Fall berücksichtigen, dass dieses Foto gestellt und instrumentalisiert wurde. Auch die Mutter befindet sich in einer ambivalenten Rolle, und handelt nicht eigenmächtig mit Gewalt in der Erziehung.

Außerdem wäre es wünschenswert, wenn allgemein weniger Gewalt ausgeübt würde, unabhängig vom Geschlecht.

 

 

[1]   https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/zahlen-daten-fakten/personalzahlen-bundeswehr [letzter Zugriff: 13.08.20].

[2]  https://www.stern.de/fotografie/frauen-in-der-us-armee-6791994.html [letzter Zugriff: 13.08.20].

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