giia_Segler-Meßner 01.25.19

giia Segler-Meßner S2 2019-01-25Komm.SSM

Das Drama Morte accidentale di un anarchico, uraufgeführt im Jahr 1970, von Dario Fo (dem Autor) selbst und seiner Schauspielgruppe „La Comune“, lässt sich wohl auch als eine Farce bezeichnen. Eine Farce ist eine Vorform der Komödie, ohne eine stringente Handlung und oftmals mit typenhaften Charakteren. Bei einer Farce steht die Unterhaltung des Publikums im Mittelpunkt. Dario Fo nutzt hier die Mittel des Komischen um über ein historisches Ereignis aufzuklären. Die Absurdität des realen Ereignisses (gemeint ist die Widersprüchlichkeit in den Vernehmungsprotokollen) führt in diesem Fall zu einer Notwendigkeit sich mit dem historischen Material durch eine Farce zu beschäftigen.
Der Literaturwissenschaftler Gérard Genette hat den Begriff Paratext geprägt. Er unterscheidet zwischen Epi- und Peritext. Der Paratext meint Textformen die einen Basistext begleiten und die Intention haben Leser in seiner Rezeption steuern. Sie können vom Autor selbst oder von Dritten verfasst werden. Der Peritext ist ein Teil der direkt und materiell mit dem Ausgangstext verbunden ist. Beispielsweise der Titel, das Cover oder Fußnoten. Im Titel (Teil des Peritextes) Morte accidentale di un anarchico besonders auffallend ist das Wort accidentale. Accidentale auf Deutsch übersetzt heißt zufällig. Meines Erachtens beschreibt das Wort accidentale die Unmöglichkeit der Wahrheit. Denn der Tod kann nicht zufällig sein (er hat immer eine Ursache) durch das ungenaue formulieren mit dem Wort zufällig kann Meinung nach beim Leser das Gefühl entstehen, dass es eine Ursache gibt welche nicht ans Licht kommen soll. Des Weiteren zeigt die Wortwahl un anarchico, dass es sich um eine exemplarische Darstellung eines unbestimmten Anarchisten handelt. Diese Annahme wiederrum bedeutet, dass sich die vorgestellte Szenerie auf verschiedene Gegebenheiten anwenden ließe.
Der Titel Morte accidentale di un anarchico referiert wie in der Einleitung schon erwähnt auf ein historisches Ereignis. Dies tut sie durch die Verwendung historischer Namen und die Anspielung auf reale Ereignisse. Es handelt sich um den am 12.12.1969 verübten Bombenanschlag auf der Piazza Fontana welcher 17 Menschen tötete und 88 schwer verletzte. Genau genommen geht es in der Frace um die darauf folgende Festnahme des Anarchisten Giuseppe Pinelli. Welche in der Nacht vom 15. auf den 16.12 damit endete, dass Pinelli aus dem 5. Stock stürzte und sofort tot war. Die verantwortlichen Polizisten sagten aus, dass Pinelli sich mangels eines Alibis aus dem Fenster stürzte. Im Nachhinein ergaben die Todesermittlungen aber, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelte.Der mangelnden Beweislage wegen, gabt es jedoch viele weitere Spekulationen bezüglich des Sturzes. Im Nachhinein kam bei Ermittlungen bezüglich des Attentats heraus, dass die faschistische Gruppe „Ordine Nuovo“ für den Anschlag verantwortlich war und die Ermittlung bewusst auf die Anarchisten lenkte, um mehr Unterstützung für die Verbannung des Kommunismus zu erhalten. Es stellt sich die Frage, was im Verhörraum vor sich ging. Vor allem die undurchsichtige und widersprüchliche Beweislage (in sich unschlüssige Verhörprotokolle und Aussagen die nicht zusammenzubringen waren) warfen viele Zweifel in der Bevölkerung an der Italienischen Polizei und Regierung auf.
Die Farce hat eine offene Struktur und lässt sich in einen Prolog und zwei Akte mit drei Szenen gliedern. Die Funktion des Prologs ist in dieser Komödie besonders wichtig, da der Prolog die italienische Entstehungsgeschichte rekonstruiert. Ohne diesen wäre es für den Zuschauer, mangels historischen Kontextwissens, wesentlich schwerer das Stück zu verstehen. Im Prolog erklärt Dario Fo auch die Wahl der dramatischen Form, er wünscht sich die Unklarheit des historischen Ereignisses zu betonen und den Zuschauer humorvoll darauf aufmerksam zu machen, dass es auch in historischen Zusammenhängen Situationen und Begebenheiten gibt die hinterfragt werden müssen. Also Grundlage seiner Farce dienen die historischen Dokumente, welche die Farce in einen realen Rahmen betten. Das Ziel von Dario Fo ist es den Zuschauer aus seiner beobachtenden Rolle herauszuholen und zum mitdenken zu animieren.
Der erste Akt beginnt mit der Einführung der Figur des Matto (der Verrückten), der vom Kommissar Bertozzo verhört wird. Es wird deutlich, dass der Matto nachweislich geisteskrank ist, dennoch sitzt er beim Kommissar, weil ihm Betrug vorgeworfen wird. Er erklärt dem Kommissar, dass er an Istriomanie leide, was zur Folge habe, dass er sich immerzu allerlei verschiedene Charaktere annehme und diese spiele. Im dem Gespräch provoziert der Matto den Kommissar Bertozzo solange, bis dieser ihn seines Büros verweist. Kurz darauf verlässt auch der Kommissar Bertozzo sein Büro. Der Matto, der nie gegangen ist, kommt in das Büro des Kommissars zurück. Zunächst zerreißt er verschiedene Dokumente und geht anschließend für den Kommissar Bertozzo ans Telefon und gibt sich für ihn aus . Am Telefon ist der Kommissar Sportivo welcher Dokumente zu einem Fenstersturz eines Anarchisten erwartet, damit diese einem Verhandlungsrichter vorgezeigt werden können. Kurzer Hand nimmt der Matto sich die Dokumente und die Kleidung des Kommissars. Er wird den Untersuchungsrichter spielen. Die zweite Szene des ersten Aktes beginnt und der Matto betritt als Untersuchungsrichter Marco Maria Malipiero das Büro von Kommissar Sportivo. Kommissar Sportivo, der Matto als Richter Malpiero und der Polizeipräsident beginnen die Ereignisse der Festnahme des Anarchisten zu rekonstruieren. Der Matto unterstützt die beiden und probiert ihre Sichtweise des Geschehenen passend zu machen und Wiedersprüche aufzulösen. Auch in dieser Rolle provoziert der Matto seine Mitmenschen und bringt sie beinahe zu einem Sprung aus dem Fenster. Am Ende des ersten Aktes wird ein Anarchistenlied gesungen, angeblich sei dieses auch während des Verhöres des verstorbenen Anarchisten Pinelli gesungen worden um den ihn zu beruhigen.

Der zweite Akt wird mit dem Anarchistenlied, welches zum Ende des ersten Aktes gesungen wurde eröffnet. Dies suggeriert, dass kein zeitlicher Bruch in der Handlung vorliegt. Noch immer arbeiten Kommissar Sporivo, der Polizeipräsident und der Matto, verkleidet als Richter Malpiereo, daran das Geschehene glaubwürdig darzustellen, als eine Journalistin angekündigt wird. Es besteht Sorge die Journalistin könnte die Unstimmigkeiten herausfinden, der Matto sieht die Möglichkeit einer neuen Identität und vereinbart mit den anderen Anwesenden sich als Kommissar Marcantonio Banzi Piccinni aus Rom zu verkleiden. Als die Journalistin kommt verteidigt er die Alibis der Kommissare, plötzlich beginnt er jedoch die Journalistin in ihren Anschuldigungen und Theorien über den Ablauf des Vorfalles zu unterstützen. Der Schauplatz wird noch interessanter, als Kommissar Bertozzo auch in den Raum kommt. Dieser erkennt den Matto in der Rolle des Kommissar Piccini und möchte ihn überführen. Dies wird jedoch von Sportivo und dem Polizeipräsidenten verhindert, da sie sich fürchten ihr Spiel könnte vor der Journalistin auffliegen. Als sich die Diskussion zuspitzt, sieht der Matto die erneute Möglichkeit für einen Rollenwechsel und gibt sich als Bischof Pater Augusto Bernier aus. Bertozzo unternimmt einen erneuten Versuch den Matto zu enttarnen, wird allerding von diesem durch eine Beruhigungsspritze außer Gefecht gesetzt, kurz darauf gelingt es ihm sich zu befreien. Alle anwesenden müssen sich selber an einen Kleiderständer fesseln. Er erklärt den beteiligten die psychische Instabilität des Mattos. Dieser reagiert indem er plötzlich einen akustischen Auslöser für eine Bombe aus der Jacke zieht. Kommissar Bertozzo wird von dem Matto neben den anderen Anwesenden gefesselt und der Matto wendet sich zum gehen. Das Licht geht aus, die Anwesenden hören eine Person aus dem Fenster fallen und die Bombe explodiert. Kommissar Bertozzo macht das Licht an und die Beteiligten einigen sich über das soeben passierte niemals ein Wort zu verlieren. Die Journalistin verlässt den Raum. Ein Mann der aussieht wie der Matto in der Figur des Untersuchungsrichters aus Rom betritt das Büro. Die beteiligten gehen auf den Mann los, bis sie feststellen müssen, dass es nicht der verkleidete Matto ist. Der Mann stellt sich als Untersuchungsrichter aus Rom vor und es beginnen die Vorbereitungen für das zuvor bereits mit dem Matto geführte Verhör.
In dem eben beschriebenen Theaterstück lassen sich die Figuren in vier Gruppen einordnen. Die erste Gruppe bildet der Matto als Figur. Sie ähnelt sehr der Figur des Zanni aus der Commedia dell´arte. Der Zanni ist der männliche Sammelbegriff für die Dienerfiguren, es gibt eine Definition für den Beginn der Commedia dell´arte und einen für die spätere Zeit der Commedia. Gemeint ist die spätere Definition, der Zane ist hier eine geschickte, aktive Figur, welche intelligent bis mäßig intelligent ist und oftmals der Kopf einer Intrige ist. All diese Adjektive passen meines Erachtens sehr gut auf die Figur des Matto. Er ist eine sehr aktive Figur, welche sehr geschickt ihre Mitmenschen in die Irre führt und dabei sehr durchdacht ist. Insbesondere wenn es um das Aussuchen der neuen Rollen geht, welche gespielt werden sollen, wird das Geschick der Figur unter Beweis gestellt. Besonders die geschickten Dialoge führen zu einer angenehmen und komödiantischen Dynamik auf der Bühne. Er fungiert als Sprachrohr für die Zuschauer und durch ihn wird starke Kritik an der Handhabung des Falls Pinellis und an der Gesellschaft geäußert, dies geschieht besonders durch des Öfteren fallende sarkastische Äußerungen, welche von den anderen Figuren nicht wirklich wahrgenommen werden. Der Matto ist derjenige, der durch seine Rollenspiele die Lügen der anderen Figuren aufdeckt.
Die Figurengruppe der etwas dümmlich dargestellte Polizei steht stellvertretend für die Institution des Staates. Sie schienen weder ehrlich zu sein noch üben sie ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen aus. Viel eher sind sie nur auf ihr persönliches wohlergehen fokussiert. Dies zeigt eine deutliche Kritik an dem italienischen Staat. Des Weiteren wird der Staat, beziehungsweise die angestellten des Staates werden „auf die Schippe genommen“. Dies geschieht zum einen durch die Darstellung der Polizisten als wenig intelligent. Zum anderen dadurch, dass sich die Beamten von einem nachweißlich psychisch Kranken täuschen lassen.Die Journalistin Feletti steht stellvertretend für die Medien, dazugehörend die Presse. Sie scheint zunächst sehr daran interessiert die Wahrheit herauszufinden und zu publizieren. Am Ende ist es ihr aber wichtiger sich und ihre Branche zu schützen als von den Geschehnissen zu berichten. Dario Fo beleuchtet auch den Aspekt der Macht der Presse, denn nur über die Presse wird die Außenwelt über Ereignisse informiert. Wenn die Journalisten so darauf bedacht wären, wie es Feletti ist, sich selbst zu schützen und dafür über bestimmte Ereignisse nicht berichten, dann führt das zu der Annahme, dass der Unwissende durch die Presse nur das erfährt, was er auch erfahren soll. Für diese These spricht, dass der Zuschauer zu Beginn der Farce genauso wenig über den genauen Hergang weiß, wie am Ende. Der vierte Mitspieler ist das Publikum. Dario Fo spricht in seinem Prolog das Publikum direkt an. Es wird aufgefordert mitzudenken und anhand der Wiedersprüche aufzudecken, dass es sich um eine absurde, unmögliche Darstellung der Geschichte handelt. Unmögliche Darstellung, weil sowohl die Polizisten unterschiedliche Aussagen über den Vorfall treffen, als auch der Matto, welcher sich immer neue Theorien ausdenkt und in denen bestärkt wird. All diese Theorien passen jedoch gar nicht zu einander. Hier sollte der Zuschauer stutzig werden und merken, dass etwas in der Erzählung des Herganges nicht schlüssig ist. Dario Fo setzt mit der Hilfe der Figur des Matto durch alle Dialoge hindurch Akzente um das Publikum zu motivieren mitzudenken und auch die Berichterstattung des realen „Fall Pinelli“ in Frage zu stellen.

Dennoch stellt sich meines Erachtens die Frage, ob es Fo gelungen ist dem Publikum zu verdeutlichen, dass es keine einzige Wahrheit gibt, dass auch der Hergang des realen Ereignisses subjektiv sei. Meiner Meinung nach ist es dem Autor durch mit Hilfe der Figur des Matto seh gut gelungen eine Verbindung zum Publikum herzustellen. Er hat durch den Prolog auch dafür gesorgt, dass das Publikum über das nötige Hintergrundwissen verfügt um die Farce mit dem realen Ereignis in Verbindung zu setzten. Meines Erachtens ist es Fo mit seiner tragischen Farce außerordentlich gut gelungen zu beweisen, dass das Theater in der Lage ist, die Menschen zum kritischen Hinterfragen und Nachdenken zu motivieren, wenn auch auf humoristischem Weg.

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