giia Segler-Meßner S1 2019.01.17

Das Drama Morte accidentale di un anarchico geschrieben von Dario Fo und uraufgeführt im Jahr 1970, von Dario Fo selbst und seiner Schauspielgruppe „La Comune“, ließe sich wohl auch als eine Farce bezeichnen. Eine Farce ist eine Form der Komödie, in welcher nicht eine spezifische Handlung, sondern viel mehr die Unterhaltung des Publikums im Mittelpunkt steht. Dario Fo nutzt hier die Mittel des Komischen um über ein historisches Ereignis aufzuklären, welches zu grotesk zu sein scheint um sich mit demselben nicht humorvoll zu beschäftigen. Die Absurdität der Wirklichkeit (hier gemeint ist die Widersprüchlichkeit in den Protokollen der Vernehmung des historischen Vorfalles) führt in diesem Fall zu einer Notwendigkeit sich mit dem historischen Material durch eine Farce zu beschäftigen.
Der Literaturwissenschaftler Gérard Genette hat den Begriff Partext geprägt. Er unterscheidet zwischen Epi- und Periext. Der Paratext meint Textsorten/- formen die einen Basistext begleiten und die Intention haben Leser in seiner Rezeption steuern. Sie können vom Autor selbst oder von Dritten verfasst werden. Der Peritext ist ein Paratext der direkt und materiell mit dem Ausgangstext verbunden ist. Beispielsweise der Titel, das Cover oder Fußnoten. Epitexte sind Texte die unabhängig und für sich stehen, sich aber auf den Basistext beziehen. Ein Epitext könnte ein Interview, ein Tagebucheintrag oder ein Brief sein. Im Titel (Teil des Peritextes) Morte accidentale di un anarchico besonders auffallend ist das Wort accidentale, welches mit dem deutschen Wort zufällig gleichzusetzten ist. Auffallend da der Tod nie zufällig ist, ihm geht meist eine Begebenheit voraus. Das Wort accidentale beschreibt meines Erachtens die Unmöglichkeit der Wahrheit. Denn ein Tod kann nicht zufällig sein und daraus lässt sich schlussfolgern das dem Tod ein Handlung vorrausgegangen ist, welche wohlmöglich nicht ans Licht kommen soll. Des Weiteren zeigt die Wortwahl un anarchico, dass es sich um eine exemplarische Darstellung eines unbestimmten Anarchisten handelt. Diese Annahme wiederrum bedeutet, dass sich die vorgestellte Szenerie auf verschiedene Gegebenheiten anwenden ließe. Der Titel Morte accidentale di un anarchico referiert wie in der Einleitung schon erwähnt auf ein historisches Ereignis. Es handelt sich um die Festnahme des Anarchisten Giuseppe Pinelli, nach einem Anschlag auf eine Bank in Mailand, ein Jahr vor dem erscheinen der Farce (1969), welche mit dem Tod Pinellis endet. Nach Angaben der Polizei sei Pinelli aus dem Fenster gefallen. Der mangelnden Beweislage wegen, gibt es jedoch viele weitere Spekulationen bezüglich des Sturzes. Im Nachhinein kam bei Ermittlungen bezüglich des Attentats heraus, dass die faschistische Gruppe „Ordine Nuovo“ für den Anschlag verantwortlich war und die Ermittlung bewusst auf die Anarchisten lenkte um mehr Unterstützung zu erhalten. Durch die Unmöglichkeit der Wahrheit der Geschichte stellt sich die Frage, was im Verhörraum vor sich ging. Dies und vor allem die groteske Beweislage (in sich unschlüssige Verhörprotokolle und Aussagen die nicht zusammenzubringen waren) warfen viele Zweifel in der Bevölkerung an der Italienischen Polizei und Regierung auf.
Die Dramatische Struktur der Farce lässt sich in Prolog, Akt I welcher in zwei Szenen geteilt ist und den Akt II einteilen. Die Funktion des Prologs ist in dieser Komödie besonders wichtig. Der Prolog rekonstruiert die italienische Entstehungsgeschichte. Ohne diesen wäre es für den Zuschauer, mangels historischen Kontextwissens, wesentlich schwerer das Stück zu verstehen.
Der erste Akt beginnt mit der Einführung der Figur des Matto (der Verrückten). Dieser wird vom Kommissar Bertozzo verhört. Er erklärt dem Kommissar, dass er an Istriomanie leide, was zur Folge habe, dass er sich immerzu allerlei verschiedene Charaktere annehme und diese spiele. Im dem Gespräch provoziert der Matto den Kommissar Bertozzo solange, bis dieser ihn einfach gehen lässt, beziehungsweise ihn seines Büros verwaist. Kurz darauf verlässt auch der Kommissar Bertozzo sein Büro. Der Matto der nie gegangen war, kommt in das Büro des Kommissars zurück. Zunächst zerreißt er verschiedene Dokumente und geht anschließend in Bertozzos Namen ans Telefon. Am Telefon ist der Kommissar Sportivo welcher Dokumente zu einem Fenstersturz eines Anarchisten erwartet, damit diese einem Verhandlungsrichter vorgezeigt werden können. Kurzer Hand nimmt der Matto sich die Dokumente und die Kleidung des Kommissars. Er wird den Verhandlungsrichter spielen. Die zweite Szene des ersten Aktes beginnt und der Matto betritt als Verhandlungsrichter Marco Maria Malipiero das Büro von Kommissar Sportivo. Sie und der Polizeipräsident beginnen die Ereignisse der Festnahme des Anarchisten zu besprechen. Der Matto unterstützt die beiden und probiert ihre Sichtweise des Geschehenen passend zu machen und Wiedersprüche aufzulösen. Auch in dieser Rolle provoziert der Matto seine Mitmenschen und bringt sie beinahe zu einem Fenstersturzselbstmord. Das Ende des ersten Aktes ist ein Anarchistenlied, welches die drei singen. Angeblich sei dieses auch während des Verhöres des verstorbeenen Anarchisten gesungen worden um den Anarchisten zu beruhigen.
Der zweite Akt wird mit dem Lied, welches zum Ende des ersten Aktes gesungen wurde eröffnet. Noch immer arbeiten die drei daran das Geschehene glaubwürdig darzustellen, als eine Journalistin angekündigt wird. Es besteht Sorge die Journalistin könnte die Unstimmigkeiten herausfinden, weshalb der Matto eine neue Figur für sich sieht. Er bietet an sich als Kommissar Marcantonio Banzi Piccinni aus Rom zu verkleiden. Als die Journalistin kommt verteidigt er die Alibis der Kommissare, plötzlich beginnt er jedoch die Journalistin in ihren Anschuldigungen und Theorien über den Ablauf des Vorfalles zu unterstützen. Der Schauplatz wird noch interessanter, als Kommissar Bertozzo auch in den Raum kommt. Dieser erkennt den Matto und möchte ihn überführen. Dies wird jedoch von Sportivo und dem Polizeipräsidenten verhindert, da sie sich fürchten ihr Spiel könnte vor der Journalisin auffliegen. Also sich die Diskussion zuspitzt sieht der Matto die erneute Möglichkeit für einen Rollenwechsel und gibt sich als Bischof Pater Augusto Bernier aus. Bertozzo unternimmt einen erneuten Versuch den Matto zu enttarnen, wird allerding von diesem durch eine Beruhigungsspritze außer Gefecht gesetzt. Schlussendlich gelingt es sich Bertozzo zu befreien und für einen kurzen Moment hat er die Oberhand. Alle anwesenden müssen sich selber an einen Kleiderständer fesseln. Er erklärt den beteiligten die psychische Instabilität des Mattos. Dieser zieht plötzlich einen akustischen Auslöser für eine Bombe, welche sich ihm zufolge in dem Raum befindet. Der Kommissar Bertozzo wird von ihm neben den anderen anwesenden gefesselt und der Matto wendet sich zum gehen. Das Licht geht aus, die Anwesenden hören eine Person aus dem Fenster fallen und die Bombe explodiert. Das Licht wird vom Kommissar Bertozzo angemacht und es wird sich geeinigt nicht über das soeben passierte ein Wort zu verlieren. Die Journalistin verläst den Raum und ein Mann der aussieht wie der Matto als Figur des Verhandlungsrichters aus Rom betritt diesen. Die beteiligten gehen auf den Mann los, bis sie feststellen müssen, dass es nicht der verkleidete Matto ist. Der Mann stellt sich als Verhandlungsrichter aus Rom vor und es beginnen die Vorbereitungen für das zuvor bereits mit dem Matto geführte Verhör.
In dem eben beschriebenen Theaterstück lassen sich die Figuren in vier Gruppen einordnen. Die erste Gruppe bildet der Matto als Figur mit welcher sehr starke Kritik an der Handhabung des Falls Pinellis und an der Gesellschaft geäußert wird, dies geschieht besonders durch des Öfteren fallende sarkastische Äußerungen, welche von den anderen Figuren nicht wirklich wahrgenommen werden. Des Weitern dient die Figur dem Stück, indem sie Dynamik in die Dialoge und auf die Bühne bringt. Hinzu kommt eine weitere übergeordnete Funktion der Figur des Mattos. Er ist derjenige der die Absurdität de Gegebenheit aufzeigt, dies geschieht dadurch, dass es ihm möglich ist jede Figur zu verkörpern und er mit dem erzählen von Lügen und verdrehten Geschichten sehr glaubwürdig bei allen anderen Figuren ankommt. Die Figurengruppe der etwas dümmlichen Polizei steht stellvertretend für die Institution des Staates. Sie schienen weder ehrlich zu sein noch üben sie ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen aus. Viel eher sind sie nur auf ihr persönliches wohlergehen fokussiert. Die Journalistin Feletti steht stellvertretend für die Medien, dazugehörend die Presse. Sie scheint zunächst sehr daran interessiert die Wahrheit herauszufinden und zu publizieren. Am Ende ist es ihr aber wichtiger sich und ihre Branche zu schützen als von den Geschehnissen zu berichten. Dario Fo beleuchtet auch den Aspekt der Macht der Presse, es geht übergeordnet um die Wahrheit, welche herausgefunden werden soll. Dennoch wissen wir aber zum Beginn der Geschichte genauso wenig über den Hergang wie am Ende. Der vierte Mitspieler ist das Publikum. Dario Fo spricht in seinem Prolog das Publikum direkt an. Es wird aufgefordert mitzudenken und anhand der Wiedersprüche aufzudecken, dass es sich um eine absurde, unmögliche Darstellung der Geschichte handelt

Die gesamte Farce zeigt immer wieder Parallelen zu dem realen historischen Hintergrund. Dario Fo probiert durch das ganze Stück hindurch das Publikum zu motivieren mitzudenken und auch die Berichterstattung des realen Falles Pinelli in Frage zu stellen. Dennoch stellt sich meines Erachtens die Frage ob es Fo gelungen ist dem Publikum zu verdeutlichen, dass es keine einzige Wahrheit gibt, dass diese Subjektiv sei. Ich bin der Meinung, dass dies in einem gewissen Gerad funktioniert und auch Erfolg hat. Damit aber der gewünschte Lerneffekt und das erfolgreiche Mitdenken in Kraft treten, sollte das Publikum über ein grundlegendes Bewusstsein der Umstände, in denen sich Gesellschaft, Staat und Medien zur Zeit des Vorfalles befanden haben verfügen.
Nichts desto trotz denke ich dass Fo es mit seiner tragischen Farce außerordentlich gut schafft hat zu bezeugen, dass das Theater in der Lage ist, die Menschen zum kritischen hinterfragen und nachdenken zu motivieren, wenn auch auf humoristischem Weg.

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