Schreibaufgabe 2 überarbeitet 20190122
Analyse von Morte Accidentale di un Anarchico von Dario Fo
Das Theaterstück „Morte accidentale di un anarchico“ des Regisseurs, Schauspielers, Satirikers sowie Autors Dario Fo wurde am 5. Dezember 1970 in Varese uraufgeführt. Gemeinsam mit seiner Frau Franca Rame und seiner Schauspielgruppe „La Comune“ prägte er das politische Aktionstheater, welches stets Bezug auf aktuelle Ereignisse nimmt. Bei dem Stück handelt es sich um eine Farce, welche keine spezifische Handlung aufweist und deren Ziel es ist, die Zuschauer mit Wortspielen, Humor und stereotypisierten Charakteren zu unterhalten. Zudem handelt es sich hierbei um eine Komödie der „Commedia dell´arte“, die die Zuschauer aufklären und zum Nachdenken anregen soll. In dem Drama „Morte accidentale di un anarchico“ geht es um einen Verrückten, der versucht den dubiosen Todesfall eines Anarchisten aufzuklären, welcher unter mysteriösen Umständen bei einem Fenstersturz ums Leben gekommen ist. Im Folgenden werden der Titel, der historische Kontext, die dramatische Struktur sowie die Figurenkonstellation des Theaterstücks analysiert.
Bei dem Titel „Morte accidentale di un anarchico“, „Zufälliger Tod eines Anarchisten“ fällt zunächst das Aufeinandertreffen der Begriffe „morte“ und „accidentale“ auf. Da der Tod nicht ohne einen spezifischen Auslöser zufällig eintreten kann, liegt hier ein Widerspruch des Titels in sich vor. Im zweiten Teil fällt das unbestimmte Personalpronomen in „di un anarchico“ auf, welches dem Dargestellten einen universellen Charakter verleiht. Fo hat sich bewusst für diese Formulierung entschieden, damit in seinem vermeintlich fiktiven Theaterstück, von irgendeinem Anarchisten die Rede sein könnte. In Anbetracht des historischen Kontextes wird jedoch deutlich, dass der Regisseur auf eine ganz bestimmte Person Bezug nimmt.
Ende der 60er Jahre sorgte eine Reihe von Terroranschlägen in Italien für Unruhe. So explodierte am 12. Dezember 1969 eine Bombe in der „Banca dell´Agricoltura“ in Mailand, die 19 Menschen tötete und viele weitere verletzte. In Folge dessen wurde der Anarchist Giuseppe Pinelli als Hauptverdächtiger verhaftet und verhört. Diese Festnahme dauerte drei Tage an und endete schließlich mit dem Tod Pinellis, der aus dem vierten Stock des Polizeireviers in Mailand stürzte. Die genauen Umstände seines Todesfalls blieben lange Zeit ungeklärt, sodass es bis heute zu keiner Verurteilung gekommen ist. Jedoch besteht der dringende Verdacht, dass Giuseppe Pinelli von Polizisten misshandelt und anschließend bewusstlos aus dem Fenster geworfen wurde. Erst später stellte sich heraus, dass nicht die Anarchisten für den tödlichen Terroranschlag verantwortlich waren, sondern die rechtsradikale Gruppe „Ordine Nuovo“ den Bombenanschlag verübte. Der Anarchist Pinelli war unschuldig und hatte nichts mit dem Terror zu tun. In seinem Theaterstück „Morte accidentale di un anarchico“ spielt Dario Fo auf genau diese Geschehnisse an.
Das Stück ist in zwei Akte unterteilt, wobei der erste Akt erneut in zwei einzelne Szenen gegliedert ist. Um das Drama in seinem konkreten politischen Zusammenhang zu verstehen, ist Vorwissen erforderlich, sodass Dario Fo selbst in einem Prolog den historischen Kontext des Theaterstücks erklärt. Der erste Akt dient als Exposition und in der ersten Szene findet das Verhör des „Matto“ durch Commissario Bertozzo statt in dessen Verlauf der Angeklagte gesteht, dass er an „istrionaomania“, krankhafter Schauspielsucht, leidet. Als der Kommissar das Gespräch beenden will, weigert sich der Verrückte den Raum zu verlassen und droht damit aus dem Fenster zu springen. Infolgedessen befördert Bertozzo den Matto gewaltsam aus dem Kommissariat und schließlich verlassen alle Beteiligten die Bühne. Kurz darauf tritt der Verrückte wieder in das Büro, um angeblich seine Papiere abzuholen. Es folgt ein langer Monolog des „Matto“ bis er das klingelnde Telefon beantwortet und mit Kommissar Calabresi spricht, den der Verrückte auch als Kommissar Fenstersturz oder „Commissario Sportivo“ bezeichnet. Während des Telefonats gibt der „Matto“ sich erst als Kommissar Anghieri und später als Untersuchungsrichter aus, der sich mit dem Fall Fenstersturz beschäftigt. Als der „Matto“ sich auf den Weg zu Calabresi machen will, kommt Kommissar Bertozzo zurück ins Büro. Der „Matto“ berichtet, dass der verärgerte Kommissar Calabresi auf der Suche nach Bertozzo sei, woraufhin der Polizist den „Matto“ erneut aus seinem Büro vertreibt. Zuletzt kommt Calabresi auf die Bühne und schlägt Kommissar Bertozzo ins Gesicht.
In der zweiten Szene des ersten Akts tritt neben dem Verrückten, der Sportsmann in ein Büro auf die Bühne. Auf Wunsch des „Matto“ kommt auch der Polizeipräsident zu dem Gespräch dazu, da auch dieser an den Geschehnissen rund um den Fenstersturz beteiligt gewesen ist. In seiner Rolle als Richter verhört der Verrückte die Beamten und fordert diese dazu auf, den Tathergang nachzuspielen. Dabei schlüpft der „Matto“ in die Rolle der Anarchisten und bringt den Kommissar Calabresi sowie den Polizeipräsidenten dazu, sich in Widersprüche zu verwickeln. Die beiden geben an, es habe sich bei dem Suizid des Verdächtigen um eine Affekthandlung gehalten, nachdem dieser erfahren hat, dass einer seiner Komplizen gestanden hatte. Da die Aussagen der beiden jedoch zeitliche Unstimmigkeiten aufweisen, ist deren Geschichte unglaubwürdig. Am Ende der zweiten Szene des ersten Akts macht der „Matto“ die Beamten lächerlich, indem er sie dazu bringt gemeinsam die Marseillaise zu singen.
Im zweite Akt setzt sich das Verhör fort und der „Matto“ konstruiert weiter den vermeintlichen Tathergang des Fenstersturzes. Schließlich wird telefonisch die Ankunft der Journalistin Maria Feletti angekündigt, woraufhin der Verrückte plant sich nicht länger als der Untersuchungsrichter, sondern als Hauptmann Marcantionio Banzi Piccini aufzutreten, um die Polizisten zu unterstützen und verkleidet sich mit einem Schnurrbart sowie einer Augenklappe. Die selbstbewusste Journalistin kommt hinzu und beginnt sogleich mit dem Interview, mit dessen Hilfe Feletti die Widersprüche zwischen den Unstimmigkeiten der Aussagen der Polizei und den vorliegenden Fakten aufklären will. Die direkten Fragen der Journalistin bedrängen den „Sportivo“ und ebenso der „Matto“ verstrickt sich mit seinen Aussagen in immer mehr Widersprüche bis nicht mehr erkennbar ist auf wessen Seite dieser steht. Unvermittelt betritt Bertozzo das Büro, der die Verkleidung des Hauptmanns Banzi Piccini erkennt, doch der Polizeipräsident sowie der „Sportivo“ wollen die Tarnung aufrechterhalten, da sie denken, dass der „Matto“ als Untersuchungsrichter auf ihrer Seite steht. Daraufhin erklärt Kommissar Bertozzo anhand einer mitgebrachten Nachbildung der Bombe, den Aufbau des Sprengsatzes und wird dabei von dem „Matto“ verunsichert, der Bertozzos Vortrag andauernd kommentiert, weshalb der Kommissar unfreiwillig mehr von dem wahren Tathergang preisgibt. Als Bertozzo erkennt, dass es sich bei dem verkleideten Hauptmann eigentlich um den Verrückten handelt, hört ihm niemand zu. Schließlich fordert die Journalistin, die Bertozzos Einwänden Glauben schenkt, den „Matto“ dazu auf seine wahre Identität preiszugeben. Im Anschluss daran, stellt sich der Verrückte in seiner Schauspielsucht der Journalistin nun als Bischof vor. Während der Sportsmann sowie der Präsident den „Matto“ in seiner neuen Rolle wieder unterstützen, versucht Kommissar Bertozzo weiterhin den Verrückten zu entlarven. Aufgrund des Verhaltens des Präsidenten sowie des „Sportivos“ sieht Bertozzo keine andere Möglichkeit, als alle Beteiligten, bis auf den Verrückten, zu fesseln, um letztendlich den „Matto“ unter vorgehaltener Pistole dazu zu zwingen seine wahre Identität preiszugeben. Daraufhin droht der Verrückte damit die Bombe zu zünden und erklärt, dass er alle Aussagen auf einem Tonbandgerät aufgezeichnet hätte, um sie zu veröffentlichen. Der „Matto“ fesselt Bertozzo bis das Licht erlischt und das Geräusch einer Bombenexplosion ertönt. Als das Licht wieder eingeschaltet ist, ist der Verrückte verschwunden. Maria Feletti stellt fest, dass der „Matto“ aus dem Fenster gefallen sein muss und vergleicht den Sturz des Anarchisten mit dem des Verrückten. Demnach folgert sie, dass die Polizei in beiden Fällen unschuldig sein muss, da alle Beamten während des Verschwindens des „Mattos“ gefesselt waren. Just in diesem Moment steht ein Mann mit Bart und Bauch in der Tür, in dem alle den erneut verkleideten „Matto“ zu erkennen glauben. Also prüfen sie den Mann, der sich als Untersuchungsrichter aus Rom ausgibt, auf seine Echtheit, indem sie ihm am Bart ziehen als auch in den Bauch Boxen und schließlich feststellen, dass es sich tatsächlich um den wahren Richter handelt, der die Vorfälle zum Fenstersturz untersuchen will. Alle Anwesenden stimmen seinem Vorschlag zu und das Licht erlischt.
Der „Matto“ steht als „Truffaldino“, einer klassischen Figur der Commedia dell´Arte, im Zentrum der Figurenkonstellation. Dieser wird als schelmisch und betrügerisch charakterisiert und wird in der Berufsschauspielkunst den „Zanni“, also den Dienern zugeordnet, die in Theaterstücken die Funktion der Gesellschaftskritik einnehmen. Die Charaktereigenschaften des „Truffaldino“ spiegeln sich exakt in der Rolle des „Matto“ wider. So betrügt er zwar durch seine ständig wechselnden Identitäten seine Mitmenschen, doch durch seine humorvolle Art wirkt er trotzdem ansprechend auf das Publikum, das durch den „Matto“ zum kritischen Denken angeregt werden soll. Gerade durch die unterschiedlichen Rollen, die der Verrückte im Verlauf des Stücks annimmt, werden die Widersprüche sowie die diversen Wahrheiten der verschiedenen Charaktere verdeutlicht. Im Gegensatz zu der Figur des „Mattos“ sind alle anderen Charaktere in der Gesellschaft wiederzufinden. So verkörpert die Journalistin die Medien sowie die Presse, welche stets auf der Suche nach einer guten Geschichte ist. Die Polizei repräsentiert den Staat, der als kriminell als auch korrupt, aber auch als dumm und leicht zu täuschen dargestellt wird. Dario Fo bezieht als vierten und wichtigsten Akteur in „Morte accidentale di un anarchico“ das Publikum mit ein. Die Zuschauer symbolisieren die „Veritá“ und haben dabei die Aufgabe aus der Symbiose der Absurdität des Theaterstücks sowie des historischen Kontexts und vor allem ihrem eigenen kritischen Denken ihre eigene Wahrheit zu extrahieren.
Dario Fo war ein Vorreiter seiner Zeit. Er hat die Notwendigkeit des kritischen Denkens der Gesellschaft früh erkannt und mithilfe seiner Theaterstücker einen erfolgreichen Weg gefunden die Bevölkerung zum Reflektieren, Hinterfragen und Nachdenken anzuregen. Aber die Unabdingbarkeit kritischen Denkens war noch nie zuvor so groß wie im Zeitalter des Internets. Das Problem besteht nicht mehr darin, Zugang zu Informationen zu bekommen, sondern in der mangelnden Fähigkeit dazu, diese Informationen zu verarbeiten und Sinn daraus zu ziehen. Unglücklicherweise bieten weder Grundschulen, noch Gymnasien oder Universitäten Einführungskurse in kritisches Denken an. Die Schulbildung hat sich mehr und mehr zu einer Handelsware entwickelt, wo die „Kunden“ durch personalisierte Lehrpläne zufriedengestellt und auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden statt zu verantwortlichen menschlichen Wesen erzogen zu werden. Dies kann und muss sich ändern. Dario Fo hat mit „Morte accidentale di un anarchico“ gezeigt wie es funktionieren kann. Heute brauchen wir eine Basisbewegung, die über Blogs, Online-Magazine und -Zeitungen sowie Vereine und andere passende Medien die erzieherischen Möglichkeiten nutzt, um die Fähigkeit zum kritischen Denken zu entwickeln. Immerhin wissen wir, dass es dabei um unsere Zukunft geht.