Schreibaufgabe zu Kamel Daoud: „Meursault, contre-enquête“, überarbeitet
Der Roman „Meursault, contre-enquête“ des algerischen Autors Kamel Daoud wurde 2013 bei Éditions barzakh in Algier sowie 2014 bei Actes Sud in Arles veröffentlicht. Er ist als Antwort auf Albert Camus’ Roman „L’Étranger“ aus dem Jahre 1942 zu sehen. Darin tötet der von der Welt entfremdete Protagonist Meursault ohne erkennbare Motive einen „arabe“, der im gesamten Roman namenlos bleibt. Hier schildert nun der Bruder des Opfers, Haroun, seine Geschichte und Verarbeitung der Ereignisse. Im Folgenden werde ich zunächst auf die Paratexte zum Roman eingehen, dann die Erzählsituation schildern und anschließend die narrative Struktur sowie Bezüge zu „L’Étranger“ analysieren.
Gérard Genette versteht unter „Paratext“ das Beiwerk zum Text, also eine Art von Schwelle, die zwischen dem Leser und dem Basistext steht. Hierbei unterscheidet er zwischen Epitexten und Peritexten. Auf die Peritexte, die sich im Gegensatz zu den Epitexten in unmittelbarer Nähe zum Basistext befinden, werde ich mich im Folgenden beschränken. Besonders auffällig ist zunächst der Titel „Meursault, contre-enquête“. In Camus’ Roman wird der Name des „arabe“ kein einziges mal genannt, hier aber enthält schon der Titel einen Hinweis auf den Täter Meursault. „Contre-enquête“ wiederum deutet auf eine Gegendarstellung, eine Wiederaufnahme der Ermittlungen, hin, wobei der Name des Autors eine arabische Sichtweise erwarten lässt. Die Gestaltung des Covers unterstützt diese Erwartungen. Der Betrachter sieht einen arabisch aussehenden Mann, der allein über einen Strand geht, welcher im Gegensatz zum bläulich-dunklen Mann in einem gleißenden Gelb gehalten ist. Überall befinden sich zahlreiche Fußspuren, die zeigen, dass der Strand sonst belebt ist, nur die Spur des Mannes geht einen eigenen Weg. Über dem Ganzen liegt eine Sepia-Kolorierung, die das Bild wie eine historische Fotografie anmuten lässt.
In dem Roman erzählt Haroun, ausgehend vom Mord an seinem Bruder, dem unbekannten „arabe“ aus „L’Étranger“, seine eigene Version und Verarbeitung dieser Ereignisse. Der Erzähler lässt sich daher als autodiegetischer Erzähler mit fixierter interner Fokalisierung bezeichnen, was eine große emotionale Nähe für den Leser bedeutet. Haroun rekonstruiert die Ereignisse in Analepsen, die nicht immer chronologisch geordnet sind. Diese sind im passé simple und passé composé gehalten. Im présent hingegen schildert der Erzähler die Abende, an denen in einer Bar seine Geschichte erzählt.
Eine narrative Besonderheit des Textes liegt darin, dass es einen expliziten Adressaten gibt, der direkt angesprochen wird. Zunächst wirkt dies wie eine Ansprache des Lesers, nach und nach stellt sich aber durch inhaltliche Andeutungen und direkte Ansprachen wie „l’inspecteur universitaire“ (S. 30) heraus, dass Haroun ein Gespräch mit einem Akademiker führt, der ein Buch über die Geschichte des namenlosen „arabe“ plant. Dies lässt sich als einen metareferentiellen Verweis auf die Genese des Romans deuten. Die beiden treffen sich Abend für Abend in einer Bar, wodurch der Kontext recht informell ist und auch durch das Duzen – nur selten durchbrochen vom spielerischen Siezen (vgl. z.B. S. 27) – nur wenig Distanz aufgebaut wird.
Strukturell ist der Text in fünfzehn Kapitel gegliedert. Wie bei den meisten Romanen bilden das erste und das letzte Kapitel einen narrativen Rahmen. Im ersten Kapitel, der Exposition, führt der Erzähler den Leser in die Thematik ein und legt die Gründe dafür dar, weshalb er seine Geschichte erzählen will: er möchte den Mord an seinem Bruder Moussa endlich publik machen und auch seinen persönlichen Umgang mit den Ereignissen beschreiben. Im letzten Kapitel, welches direkt an das Ende von „L’Étranger“ angelehnt ist und durch Daouds Adaptation beinahe ins Groteske kippt, findet eine Art Auflösung oder Fazit statt, da es sich auch um das letzte Treffen Harouns mit seinem Zuhörer handelt.
Der Aufbau des Romans ist symmetrisch gehalten. Zunächst erzählt Haroun die Geschichte vom Tod seines Bruders und die Auswirkungen, die dieser auf sein Leben und das seiner Mutter hatte. Haroun selbst war lange Zeit bloßer Erleidender, der auf sein Schicksal reagieren musste und auch für seine Mutter eher einen „revenant du frère“ (vgl. S. 56) als eine eigenständige Persönlichkeit darstellte. Im achten Kapitel begeht Haroun zwanzig Jahre nach dem Tod seines Bruders schließlich selbst einen Mord am Franzosen Joseph Larquais und beginnt damit das erste Mal, eigenständig zu handeln. Ähnlich wie in „L’Étranger“ begeht Haroun diesen Mord ohne erkennbare Motive. Einzig auf einen öffentlichen Prozess hofft er, um so auch das Schicksal seines Bruders der Öffentlichkeit zu vermitteln. Aber genau wie Meursault bleibt ihm ein angemessener Prozess vorenthalten: Meursault wird verurteilt, weil er nicht wie erwartet um seine Mutter getrauert hat; Haroun wird von den Polizisten kaum ernst genommen und nur beschuldigt, nicht im Krieg für die algerische Unabhängigkeit gekämpft zu haben und somit Joseph nicht einen Tag zuvor legal getötet zu haben. Trotz des ausbleibenden Prozesses markiert der Mord einen Wendepunkt im Roman und in Harouns Leben. Aus dem reinen Erzähler wird ein Handelnder, der zum ersten Mal ein eigenes Leben führt, indem er mit dem Tod seines Bruders abschließt: „C’était l’occasion d’en finir avec [Moussa], de l’enterrer dignement“ (S. 94). Er beginnt nun auch, sich von seiner Mutter zu emanzipieren und geht sogar eine Liebesbeziehung mit einer Frau namens Meriem – wiederum eine Anspielung auf „L’Étranger“, hier auf Meursaults Freundin Marie – ein. Als Außenseiter und nicht praktizierender Muslim ist er aber trotz allem auch selbst immer ein Sonderling, ein „étranger“ im eigenen Milieu geblieben.
Interessant ist zudem die Mehrgleisigkeit der Geschichte. Einerseits erzählt Moussa von seinem ganz individuellen Trauma, das der Tod des Bruders ausgelöst hat und wie er selbst und seine Familie damit umgegangen sind. Andererseits geht es auch um die kollektive Bedeutung, die in der Namenlosigkeit des „arabe“ in „L’Étranger“ für die gesamte Literaturgeschichte besteht. Als dritte (oder Zwischen-)Ebene lässt sich die algerische Komponente sehen: Camus’ eurozentrische Sicht auf Algerien blendete den arabischen Alltag aus, welcher hier, u.a. auch durch historische Ereignisse, eine zentrale Rolle spielt. Die narrative Leerstelle bildet in allen Fällen der namenlose Moussa.